«Suckerpunch»,
Kurzgeschichte, 2024
Ich wurde beinahe von einem Auto erfasst, weil ich wie ein Zombie auf dem Zebrastreifen stand und in mein Handy starrte. Das Auto hupte. Aber ich hatte nur Augen für die E-Mail vom Literaturinstitut. Ich war in der zweiten Runde. Ich war glücklich. Von den über 200 Bewerber*innen war ich also eine der 30, die ans Aufnahmegespräch durften. Die erste Hürde war geschafft. Jetzt galt es, die zweite Hürde zu nehmen. Ich würde zu den 7 deutschsprachigen Schreibenden gehören, die zum Studium zugelassen werden. Ich bereitete mich akribisch auf das Gespräch vor. Ich überlegte mir Fragen. Lief stundenlang Kreise im Schlafzimmer, während ich die Antworten einstudierte. Ich ging das Gespräch im Kopf durch. Zehn und dann zwanzig Mal. Ich packte mein Französisch aus. Zweisprachigkeit war schliesslich Voraussetzung. Ich übte mit Freunden. Las Bücher. Glaubte an ein Wunder.
Eine Woche vor dem Gespräch am Literaturinstitut kam die Info-Mail vom Masterstudium. Auch da war ich eine Runde weiter. Auch da hiess es: Aufnahmegespräch. Ich lief wie auf Wolken. Ich wusste: Es ist endlich soweit. Ich werde literarisches Schreiben studieren. Abends ging ich an ein Konzert, um meine Erfolge zu feiern. Ich tanzte ausgelassen, trank Bier. Und vergass mich. Vergass, mir die Ohropax in die Ohren zu stopfen, die in meiner Tasche lagen. Die Gitarrenriffs summten in meinem Kopf. Das Schlagzeug donnerte in den Ohren. Noch bevor das letzte Riff verklang, dachte ich: Scheisse, da stimmt was nicht. Ich hörte ein Pfeifen auf dem rechten Ohr. Klingeln und Rauschen. Das Geräusch war so laut, dass ich mich auf nichts mehr konzentrieren konnte. Und es wurde nicht besser. Auch nicht am nächsten oder übernächsten Tag. Ich hatte Angst.
Ich ging zum HNO. Machte einen Hörtest. Diagnose: Lärmtrauma und leichter Hörsturz. Ausgerechnet. So kurz vor den Aufnahmegesprächen. Das Pfeifen und Piepen hielt mich wach. In der Nacht vor dem Gespräch fürs Masterstudium schlief ich keine zwei Stunden. Am Morgen hämmernde Kopfschmerzen. Brainfog. Und ich wusste: Da musst du jetzt durch. Während dem Kaffeekochen machte ich Atemübungen. Auf dem Fussweg nach Bümpliz dito. Als ich die Eingangstür an der Schwabstrasse aufstiess, war ich ruhiger. Für zwanzig Minuten würde ich mich zusammenreissen können. Ich setzte mich an den Tisch. Vor mir Stefan Humbel, Arno Renken und Gianna Molinari. Das Gespräch lief gut. Ich machte ein paar Witze. Wir lachten. Wir diskutierten über das Schreiben und über Schreibprozesse, über Inspiration, darüber, wie ich Charaktere entwickelte. Als die Tür hinter mir zufiel, war ich erleichtert. Ich wusste, ich hatte mein Bestes gegeben, war motiviert und beschwingt. Und diesen Schwung nahm ich mit ins Gespräch am Literaturinstitut tags darauf. Mir gegenüber sassen diesmal Leonie Achtnich, Martina Clavadetscher und Michael Stauffer. Wieder Witze, wieder lustig, wieder Diskurs über mein Schreiben. Mein Text sei schön, flüssig. Ausgefeilte Dialoge. Szenische Sprache und ich hätte eine eindrückliche Schreibpraxis, hiess es. Als ich nach dem Gespräch auf die Strasse trat, war ich wieder erleichtert. Ich fühlte mich gesehen. Bestätigt. Diesmal würde es klappen.
Ein, zwei Tage lang war ich frei. Ich träumte vom Studium, davon, mich in Texten zu vergraben und unter Büchern. Dann kam die Angst zurück. Was, wenn der Tinnitus nicht besser würde? Was, wenn ich wegen dem Pfeifen nicht mehr arbeiten könnte? Nicht mehr schreiben? Nicht studieren? Das Geräusch nahm immer mehr Raum ein. War ein ungebetener Gast, der sich auf dem Sofa breit machte. In meinem Bett lag. An meinem Schreibtisch sass und mich auf die Yogamatte verfolgte. Er drang durch meine Ohren in die Nasennebenhöhlen ein. Quetschte sich zwischen Hirn und Schädeldecke. Schob sich meinen Hals herunter. Verstopfte die Lunge, den Magen, den Darm. Drang bis in meine Zehenspitzen vor. Bis mein Körper nicht mehr mir selbst gehörte. Ich konnte nicht mehr essen. Konnte nicht mehr raus gehen oder Freunde treffen, ohne dass der Tinnitus dabei war. Hämisch lachend. Kreischend meine Gedanken zerstückelnd. Ich war verzweifelt. Verbrachte meine Tage ins Nichts starrend im Wohnzimmer. Trank literweise Tee, weil ich irgendwo gelesen hatte, dass das gut sei bei Tinnitus. Keine Ahnung. Ich verlor sechs Kilo in zwei Wochen. Hatte bald höllische Kopfschmerzen und sah nur noch verschwommen. Ich ging zur Hausärztin. Sie stellte Fragen. Nahm mir Blut ab und verschrieb Antidepressiva.
Am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Ein Anruf vom Literaturinstitut. Ich war sicher, das sei die Zusage. Eine Absage wäre per Mail gekommen, oder? Leonie Achtnich war am Apparat. Hallo. Kurze Pause. Und zwei Sätze, die ich so schnell nicht vergessen werde: Tut mir wahnsinnig Leid. Es hat nicht gereicht. Leonie fuhr fort. Ich hörte nur die Hälfte. Meine Ohren waren mit Pfeifen beschäftigt. Klingelten abwechselnd in hohen Tönen. Im Stakkato. Es sei knapp gewesen, hörte ich sie sagen. Eine schwere Entscheidung, sie wünschte, sie hätte mehr Plätze und all das. Mein Schreiben sei weit entwickelt, und eben, die Schreibpraxis sei ausgereift. Sie könne mich nicht mehr so formen wie jüngere Schreibende. Was sie eigentlich sagte: Du bist zu alt.
Die Worte trafen mich wie ein sucker punch. Sucker punch. Der englische Begriff beschreibt das Gefühl am besten: Ein unerwarteter Schlag in die Bauchgegend, der die Luft aus dem Körper verdrängt. Ein Vakuum erzeugt. Ich konnte nicht mehr atmen. Mein ganzes Dasein war reduziert auf einen schmerzenden Punkt im Unterleib und auf das Pfeifen in meinem Ohr.
Kaum hatte sich Leonie verabschiedet, klingelte das Handy wieder. Die Ärztin. Welche Ärztin? Ach ja. Ich hätte einen schweren Natriummangel, erklärte sie. Das sei gefährlich. Sie sagte was von wegen Koma und Tod. Schickte mich in die Notaufnahme. Ich sass also im Wartesaal des Inselspitals. Am Montagnachmittag. Mit pfeifenden Ohren im Dauerlärm. Es kamen immer wieder Notfälle. Mit der Ambulanz, mit der Rega. Neben mir eine Frau mit Tourette. Schrie alle paar Minuten: Nein! Nein! Nicht! Und ich wollte mitschreien. Schrie innerlich. Nach drei Stunden fragte ich am Empfang, wie lange ich noch warten müsse und sah dabei so erbärmlich aus, dass ich in ein Séparée gebracht wurde, das eigentlich für Infusionen reserviert war. Die Frau mit dem Tourette schrie weiter. Die Notaufnahme füllte und leerte sich wieder. Auch mein Kopf wurde allmählich leer. Er wuchs und blähte sich auf wie ein Luftballon, der jeden Gedanken verdrängte und jeden Moment platzen wollte. Ich starrte die Wand an, oder meine Hände, ich sah sie verschwommen. Sah auch die Pflegerin verschwommen, spürte die Nadel in meinem Arm nicht. Schmerzmittel, sagte die Frau und war auch schon wieder weg.
Wie ich denn eine Hyponatriämie gekriegt hätte, fragte die Assistenzärztin, die mich um zwei Uhr morgens auf die Station brachte. Mit Tee, sagte ich schulterzuckend. Ob ich mich hätte umbringen wollen, fragte sie weiter und riet mir, professionelle Hilfe zu suchen. Im Zimmer lagen drei ältere Frauen. Ich konnte nicht ausmachen, wer davon schnarchte. Ein Pfleger brachte wieder Schmerzmittel und dazu etwas Bouillon. Aber nur ganz wenig, sagte er. Ich dürfe nichts mehr trinken, weil ich mir mit dem Tee meine Blutsalze ausgespült hätte. Noch eine Nacht wurde ich zur Überwachung dabehalten. Die Blutwerte erholten sich und das Bett wurde gebraucht. Also ab nach hause.
Ich fiel fast von der Rolltreppe auf dem Weg zum Ausgang, als ich die Nachricht vom Masterstudium erhielt. Genau der Master, den hatte ich vergessen. Guten Tag, wir freuen uns ihnen mitteilen zu können, dass sie die Aufnahmeprüfung bestanden haben. Stand da. Und eine Zeile weiter unten. Leider haben wir nicht genügend Studienplätze, sie sind auf der Warteliste. Ich las die Nachricht noch zwei, drei Mal. Sie ergab keinen Sinn. Aber das konnte am Natriummangel liegen. Ich schrieb dem Studiengangsleiter. Ja, sagte er kurz darauf am Telefon, das sei schon richtig. Er hätte eben nur 3 Plätze für deutschsprachige Autor*innen und es hätten zu viele Leute Prosa gemacht. Mein Text sei übrigens super. Keine Pointe.
Dem Tinntius-Therapeuten erzählte ich von alldem nichts, als er mich fragte, wie es mir ging. Wo sollte ich auch anfangen. Er erklärte, dass nicht das Geräusch mein Problem sei, sondern mein Denken. Statt gegen den Tinnitus zu kämpfen, müsse ich die negative Denke abstellen. Mich ablenken. Und mich gaslighten. Mir versichern, dass alles gut würde, dass ich mich bald an das Pfeifen gewöhnen würde. Ich begann also, das Geräusch von aussen zu betrachten. Neutral. Vielleicht auch neugierig. Ich hörte mir die Tonfolgen genauer an. Mal hörte es sich an, wie die Sirene einer Ambulanz. Mal wie die ersten Akkorde eines Kinderlieds. Es klang immer anders. Immer neu. Ich war fasziniert. Hörte zu. Beobachtete. Und holte mir langsam meinen Raum zurück. Jeden Tag ein Zimmer. Ich schmiss den Tinnitus aus meinem Bett, zog ihm die Yogamatte unter den Füssen weg, stiess ihn vom Sofa. Das Geräusch wurde erträglicher. War nicht mehr gefährlich. War irgendwann fast weg.
Jetzt stehe ich da, in meiner Wohnung mit einer Tasse Tee in der Hand. Es ist endlich wieder ruhig. Und wie geht es weiter? Wenn ich das nur wüsste.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 2 «Mesokarp»
((Caro)) Ich wette, das Arschloch heisst Kevin. So sieht er aus. Wie ein selbstgefälliger, ignoranter Arsch mit Namen Kevin. Er hebt mit einer Hand einen Snowboardschuh vom Boden auf und streicht sich mit der anderen eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann sieht er mich. Schneidet eine Fratze, zeigt mir beinahe demonstrativ die Zähne. Dreissig Leute stehen dicht an dicht in der Gondel. Eltern mit Kindern, ein paar Rentner, und genau neben uns befindet sich die Gruppe Zwanzigjähriger, die, obwohl gut fünf Jahre zu alt, tief in ihrer Fuck-the-System-Phase steckt und dieser nun durch Maskenverweigerung Ausdruck verleiht. Was unter anderen Umständen eine harmlose Pseudorebellion wäre, wird vor dem Hintergrund der Pandemie zum potentiellen Superspreader.
Aber das ist Kevin egal. Kevin interessiert sich nur für Kevin. Er lacht gerade entschieden zu laut über die mässig lustige Aussage eines Kumpanen, der zwar eine Maske trägt, diese aber unten am Kinn. Der Fahrer steht derweil teilnahmslos vor seiner Konsole, kehrt uns den Rücken zu, und auch die anderen Fahrgäste sind offenbar der Überzeugung, dass eine Infektion umgeht, wer die testosterongesteuerten Arschlöcher nur konzentriert genug ignoriert. Kevin weiss, dass niemand was sagen wird. Dass ich, darum bemüht, die Situation nicht eskalieren zu lassen, nichts tun kann, als hier zu stehen, in dieser verfickten Metallkiste, und zu hoffen, dass sie nicht bald von einer Hölzernen abgelöst wird.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Pit)) Um exakt 6:30 Uhr drückt mir Chica ihre nasse Schnauze ins Gesicht. Sie winselt leise, als wüsste sie, dass die anderen Hunde noch schlafen. Indy liegt in einer braunen Hundehöhle aus Filz, den dünnen Schwanz wie einen Zensurbalken über die Augen gelegt. Der weisse Pudel mit Namen Sansibar hat sich am Fussende meines Bettes zusammengerollt und der junge Jack Russel Terrier, der noch nicht richtig sozialisiert ist, pisst gerade an den Esstisch.
Lass das! Rufe ich und werfe ein Stofftier in seine Richtung. Das Tier, es ist ein unpräzise ausgestaltetes Schaf, das eher einer Wolke mit Beinen ähnelt, quietscht, als es gegen den Tisch knallt. Der Hund wiederum missversteht den Abschreckungsversuch als Spiel, packt das Wolkenschaf beim Kragen, schüttelt es ordentlich und bis es tot ist.
Ich strecke mich durch, die Matratze im Hundehort ist durchgelegen, und das ist mein dritter Nachtdienst in Folge. Meine Schultern sind vom Bett, aber auch vom vielen Radfahren verspannt, und ich überlege, nächsten Monat beim Velokurier weniger Schichten anzunehmen. Sowieso stehen grössere Prüfungen an. Und meine Bachelorarbeit habe ich weder fertig noch angefangen. Ich wische die Pisse mit dem Mob auf und öffne den Hunden die Tür zum Garten, während in der Küche der Kaffee kocht. Chica pinkelt gleich neben dem Haus an einen Baum. Sansibar gräbt den Garten um. Das Loch-Projekt, das er letzte Woche gestartet hat, kommt gut voran. Der Hund verschwindet beim Graben bereits ganz im Boden. Ich höre die Besitzerin schon meckern, weil sie ihn gestern erst im Hundesalon zum Haareföhnen gebracht hat oder Ähnliches. Ich fülle frisches Wasser in die Trinkschalen, die Näpfe der Vierbeiner mit ihrem Futter. Nur Indy darf nicht mit den anderen frühstücken, da er ausschliesslich beim Training mit Ines aus seinem Futterbeutel Essen erhält. Aus Mitleid kriegt er einen seiner CBD-Kekse. Auch dem Pudel mische ich zwei Hanf-Kekse ins Fressen und hoffe, dass er nach dem Verzehr zu high ist, um weiter zu graben. Dann fällt mir ein, dass der Kaffee seit zehn Minuten vor sich hin kocht.
Ich sehe Ines dabei zu, wie sie einmal mehr direkt vor dem Eingang des Hundehorts parkt. Streng genommen ist dort kein Parkplatz, sondern Warenumschlag. Die gelben Markierungen am Boden sind gut sichtbar. Ines sieht müde aus, müder als sonst. Abgekämpft, mit dunklen Schatten unter den blauen Augen, steht sie vor dem Tresen. Ich reiche ihr die Hundetasche, stelle eine Tasse Kaffee vor sie hin.
Frisch gebrüht! Sage ich breit grinsend. Ich fühle mich etwas lächerlich, wie ich so da stehe, im abgetragenen Pullover und den dreckigen Jeans.
Indy sitzt bereits vor Ines Füssen, still und mit viel zu gerader Postur. Überhaupt ist dieser Hund zu gut erzogen. Weicht Ines nicht von der Seite und befolgt Befehle, die sie nie ausgesprochen hat. Ein schönes Tier. Braun gestromter Windhund aus Spanien. Ines macht eine Grimasse beim ersten Schluck Kaffee.
Der ist dir verbrannt. Sie lacht, schiebt mir die Tasse hin.
Gut, bis übermorgen, sagt sie. Ich nicke eifrig und frage:
Um fünf? Obwohl ich die Uhrzeit der Reservationsliste entnehmen kann und sie ist schon zur Tür raus, als sie noch sagt:
Genau!
Meine Ohren werden heiss, auch meine Wangen. Ehe ich darüber nachdenken kann, was das bedeuten mag, wird auch mein Bein warm, weil der Terrier gerade dran pinkelt.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Leni)) Wie lange wir wohl schon vor dem Grab sitzen? Und es regnet und regnet. Wenn’s nur nicht so kalt wäre. Estelle stupst mich jetzt zum dritten Mal an. Zeit zu gehen. Ich löse mich aus Caros Umarmung. Sie weint, also küsse ich sie auf die Stirn. Um mich vom Boden hoch zu stemmen, brauche ich beide Hände und mehr Zeit, als mir lieb ist. Den Sack mit den weissen Kieselsteinen lasse ich vor dem Eingang zum Friedhof stehen und auch die restliche Erde. Ich habe keine Verwendung mehr dafür. Meine Knie schmerzen, die Zehen, wenn sie auch trocken sind in den Gummistiefeln, spüre ich ob der Kälte kaum mehr.
Zuhause kocht Caro Tee, während ich Estelle mit dem Hundehandtuch trocken rubble. Der Hund wirft sich zufrieden auf den Rücken und streckt mir den weissen Bauch entgegen, den ich noch abrubbeln muss, als er schon längst trocken ist. Als Estelle noch klein war, habe ich sie ganz ins Handtuch eingewickelt und ihr dabei zugesehen, wie sie sich Kopf voran wieder herausgewunden hat.
Caro bringt Kamillentee in die Stube. Im Ofen knistert das Feuer, und ich halte mich an meiner Tasse fest, als wäre sie ein Anker. Die Kälte weicht langsam aus meinen Knochen, nicht zuletzt dank Estelle, die auf meinen Füssen Bettflasche spielt. Walter hat den Welpen vor zwölf Jahren an einem ganz normalen Dienstag auf den Küchentisch gesetzt. Neben den kleingewürfelten Sellerie. Was es zum Znacht gibt, hat er gefragt und sich ein Glas Wein eingeschenkt.
Walter tat nie, was ich erwartet habe, und selten, was er versprochen hat. Trotzdem war der Herzinfarkt mit dreiundsechzig ein ungerechtes Schicksal. Nicht, dass ich ans Schicksal glaube oder an Gerechtigkeit.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 1 «Exokarp»
((Caro)) Mit dem Fahrrad ist die Strecke zum Inselspital in unter zehn Minuten zu bewältigen. Unsere WG liegt hinter dem Zähringer-Migros in der Berchtoldstrasse, von da aus fahre ich einmal quer durch die Länggasse, der Bühlstrasse entlang und bis zum Inselplatz. Genau hier bin ich vor zwei Jahren durch die Fahrprüfung geflogen, weil ich beim Linksabbiegen die rote Ampel übersehen und beinahe zwei Fussgänger überfahren habe. Die Ampel schaltet auf Grün, und ich entdecke den roten Mini zu spät, der vom Spital her kommt und links Richtung Güterbahnhof abbiegt. Das Auto erwischt mein Vorderrad, der Lenker dreht sich abrupt zur Seite, das ganze Fahrrad. Die Wucht des Aufpralls katapultiert mich aus dem Sattel. Ich weiss jetzt, wie sich einer fühlt, der als Zirkusattraktionen aus einer Kanone geschossen wird, und lande, begleitet von einem dumpfen Knall, auf der Motorhaube des Minis. Für eine Sekunde friert die Zeit ein. Ich warte auf den Applaus, die Nummer war immerhin gefährlich, wage nicht zu atmen und nicht die Augen zu öffnen. Dann höre ich die Autotür zuschlagen, spüre eine Hand auf meiner Schulter.
Alles in Ordnung? Bist du verletzt? Vor mir eine Frau Mitte dreissig, adrett mit Blazer und streng im Nacken geknotetem Haar.
Hab dich einfach nicht gesehen. Sagt die Frau. Ich betaste die schmerzende Stelle an meinem Hinterkopf und den linken Ellenbogen. Setze mich auf und bewege versuchshalber Arme und Beine. Das linke Knie schmerzt, die ganze linke Körperseite.
Nichts passiert, stelle ich fest und rutsche vorsichtig von der Motorhaube.
Vom Strassenrand aus beobachten uns Schaulustige. Der Verkehr bewegt sich weiter. Wer geradeaus fährt, kommt problemlos am Mini vorbei, wer abbiegt, macht einen Bogen.
Ich bin Ärztin, sagt die Frau und legt sanft aber bestimmt beide Hände an meinen Kopf. Sie sieht sich Augen, Nase und Ohren an. Tastet meinen Hals ab, die Schultern, den Bauch. Dabei fragt sie mich, ob ich Schmerzen habe, will meinen Namen wissen, mein Alter. Ich zucke zusammen, als sie meine Rippen berührt.
Deine Rippen sind geprellt, sagt sie.
Solltest du in den nächsten vierundzwanzig Stunden Kopfschmerzen, Schwindel oder Konzentrationsschwierigkeiten haben, melde dich bei deinem Hausarzt oder direkt bei mir. Sie zückt ihre Brieftasche, streckt mir eine Visitenkarte hin.
Auch für den Fall, dass ich dein Rad ersetzen soll. Sie deutet auf mein Vorderrad, das offensichtlich eine Acht hat.
Ines Hübsch steht auf der Visitenkarte. Assistenzärztin Universitäres Notfallzentrum Inselspital. Darunter eine Telefonnummer und eine E-Mail.
Gehört eigentlich nicht zum Job, selbst Notfälle zu produzieren. Ines lächelt und macht dabei ein eher mitleidiges Gesicht.
Passt schon. Sage ich und inspiziere das Fahrrad. Das Schutzblech ist verbeult, der Sattel steht schief, und da ist eben die Acht im Vorderrad. Ines fragt noch, ob sie mich irgendwo hinfahren soll.
Ich melde mich mit der Rechnung, entgegne ich im Halbernst und blicke vorsichtshalber in alle Richtungen, bevor ich humpelnd den Rest der Strasse überquere.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 2 «Mesokarp»
((Peter)) Ma kommt nicht mehr zurück. Sage ich.
Ach, was! Joseph setzt sich das Headset auf. Das hatten wir alles schon. Deine Mutter, die ist, naja … Manchmal braucht sie einfach Zeit für sich.
Joseph lässt ein selbstsicheres Grinsen sehen, nur will es nicht so recht auf seinen Lippen sitzen bleiben.
Diesmal ist es anders. Sage ich. Und das weisst du.
Ich sammle die Wassernäpfe ein, die im Hort verstreut rumstehen. Wasche sie in der Küche mit Seife und heissem Wasser. Joseph haut energisch in die Tasten. Er räuspert sich immer mal wieder, schnieft.
Pa, weinst du? Frage ich, nachdem ich die Näpfe auf ihre angestammten Plätze verteilt habe.
Nein. Joseph schnieft erneut. Ich reiche ihm ein Taschentuch.
Sag jetzt nicht, das sind Allergien.
Nein, nein, aber dieser Infekt ist richtig hartnäckig. Joseph schnäuzt sich, gibt mir das verdreckte Taschentuch zurück.
Ugh. Was soll ich damit?
Wegwerfen, ich habe hier keinen Eimer.
Joseph widmet sich wieder dem Bildschirm, und für eine Weile sind die schnellen Tastenanschläge das einzig hörbare Geräusch.
Es ist noch früh morgens. Die ersten Gäste werden in einer Stunde bei uns abgeladen, und ich mache mich selbst gleich auf den Weg mit dem Taxi.
Du kannst dich nicht ewig hinter der Arbeit verstecken, Pa.
Joseph hört auf zu tippen.
Hast du mit deiner Mutter gesprochen? Fragt er.
Sie war gestern zuhause.
Was hat sie gesagt?
Ist dir überhaupt aufgefallen, dass sie den Schrank ausgeräumt hat?
Hat sie gesagt, wie lange sie weg bleibt?
Sprich selbst mit deiner Frau! Fuck, Joseph, genau da liegt das Problem. Du müsstest Giulia zeigen, was sie dir bedeutet. Schenk ihr Blumen oder Kleider, geh mit ihr Abendessen, ins Theater, auf ‘nen Städtetrip. Scheisse … Keine Ahnung, was alte Leute so machen. Aber Frauen mögen das, die wollen umschwärmt werden.
Aha, das wollen die Frauen also. Sagt Joseph. Du bist mir ein schöner Casanova.
Was sie nicht wollen. Sage ich. Ist ein Mann, der aussieht wie ein unrasierter Fleischkloss und ununterbrochen auf Arbeit ist.
Ich packe den Autoschlüssel und marschiere zur Tür.
Peter, warte! Ruft Joseph.
Ich drehe mich um, sehe meinen Vater an, wie er hinter der Theke steht. Dieser überdimensionierte Wackelpudding mit den wässrigen Augen.
Was hat sie gesagt? Josephs Stimme klingt brüchig.
Echt? Mann, reiss dich zusammen. Sage ich. Mach halt was. Irgendwas. Fahr bei Therese vorbei oder ruf Giulia wenigstens an.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 3 «Endokarp»
((Caro)) Vor mir öffnet sich ein Loch im Boden. Wortwörtlich. Die Erde ist nass. Es riecht nach Moder und frisch geschnittenem Gras. Die ganze Nacht über hat es geregnet, und meine Lederstiefel sind nicht wasserdicht. Einzelne Sonnenstrahlen drängen sich zwischen den Wolken hervor. Sie scheinen auf die Urne, als würden sie sich verabschieden. Wie nett von ihnen. Der Pfarrer trägt ein übergrosses, weisses Leinengewand und sieht damit aus wie ein Bub, der noch nicht in seine Kleidung hineingewachsen ist. Er deutet mit der Hand erst auf mich und dann das Loch. Offenbar ist es Zeit, Urneversenken zu spielen. Dom stützt mich beim Aufstehen. Meine Beine sind Pudding, und so knie mich mehr oder weniger unfreiwillig ins nasse Gras. Ich betrachte das Loch, die aufgehäufte Erde daneben.
Leni war eine liebevolle Ehefrau und Mutter, sagt der Pfarrer. Woher er das wissen will, erschliesst sich mir nicht. Leni war schon lange nicht mehr in der Kirche. Maximal an Weihnachten, Ostern oder an Tagen wie dem heutigen.
Liebe Leni, wir nehmen Abschied von Dir, Du bist nicht mehr da, wo Du warst, aber Du bist überall, wo wir sind. Sagt der Pfarrer, und ich bin mir sicher, dass er diesen Spruch in jeder Grabrede bringt, dass er mit neunzig Prozent seiner Reden copy paste betreibt, ersetzt einfach den Namen des Verstorbenen, der Angehörigen und die Hobbys. Hinter mir stehen Dom, eine von Lenis Cousinen und meine Mutter. Letztere seufzt gut vernehmbar. Ich spüre ihre Ungeduld im Nacken. Zögerlich platziere ich das dunkelblaue, schmucklose Keramikgefäss, das die staubigen Überreste meiner Grossmutter in sich trägt, im Loch. Nicht wirklich gewillt, loszulassen, doch im Unvermögen, etwas anderes zu tun, als was von mir erwartet wird.
Die Leute vom Dorf stehen in einigen Metern Entfernung, als wäre Lenis Asche ansteckend. Ich erkenne Lenis Nachbarn, befreundete Milchbauern. Den Gasthofbetreiber, in einem abgetragenen, schwarzen Anzug, und den ortsansässigen Metzger, der sich für den Anlass extra die wenigen noch vorhandenen Haare über die Glatze gekämmt hat. Der Dorfpolizist hat eine betont strenge Miene aufgesetzt und eine Frau, die ich öfter mit ihrem sehr fetten Mops im Dorf antreffe, sieht dank dem altbackenen Stufenschnitt mit den hellblonden Strähnchen aus wie eine Zeitreisende aus den 1990er Jahren. Ich würde sie gern fragen, wo die Zeitmaschine steht, und ob sie mich einen Monat in der Zeit zurückschicken kann, damit ich mich mit Leni einsperren kann, bis wir geimpft sind, statt total verblödet in die Skiferien zu fahren. Der Pfarrer verliert noch ein paar Worte mehr über Leni und dabei meine Aufmerksamkeit. Meine Schuhe und Socken saugen sich indessen mit Wasser voll. Jeans und Unterhosen sind da einen Schritt weiter und kleben sich wie eine kalte Kompresse an Waden, Oberschenkel und Arsch. Überhaupt fühle ich mich durchweicht. Matschig bis ins Innerste. Und wer weiss, vielleicht fusioniere ich gleich selbst mit dem Boden.
Keine Sorge ↗
Roman, 2020-2024
Textauszug Teil 3 «Endokarp»
((Caro)) Marion rollt mich in den Garten. Sie bringt mir ein Eiste, versucht ihr Bestes, dabei Zuversicht auszustrahlen. Ich rühre mit dem Papierstrohhalm die Flüssigkeit um, die Eiswürfel klimpern gegen das Glas, die frische Minze duftet nach Sommer. Marion bringt mir eine Decke, aber es ist auch so warm genug. Der Garten liegt gen Süden, und die Sonne toastet mich gleichmässig, während ich den Eiswürfeln beim Schmelzen zusehe. So ruhig war es in meinem Kopf noch nie. Normalerweise prügeln sich zu jeder Tages- und Nachtzeit hunderte Gedanken um meine Aufmerksamkeit. Nur heute ist nichts los.
Da bist du ja. Sagt Tanja. Ich hab dich überall gesucht.
Was machst du hier? Ich blinzle die Silhouette meiner Mutter an, halte mir eine Hand vor die Augen, um im Gegenlicht was zu sehen.
Du siehst dünn aus. Sagt sie mit gespielter Fürsorge. Kriegst du genug zu essen?
Sei ehrlich. Sage ich. Was machst du hier?
Darf ich meine Tochter nicht besuchen? Tanja täuscht ein Lächeln vor.
Da du nie im Spital warst, dachte ich, du hast Besseres zu tun.
Tatsächlich musste jemand die Beerdigung organisieren. Sagt sie. Den Sarg, die Urne, Blumenbouquets, Einladungskarten, weisst du eigentlich, wie teuer das ist? Der Sarg allein kostet mehr als eine Monatsmiete. Und vorbereitet hat Leni auch nichts. Das Testament hat vier Zeilen.
Deshalb bist du gekommen. Sage ich. Geld.
Leni will dir das Haus hinterlassen und alles andere, wusstest du das? Tanja zupft am Reverskragen ihrer fleischfarbenen Bluse und sieht pikiert aus.
Sie hat mal was erwähnt. Sage ich.
Hat sie auch erwähnt, dass die Bank das Haus pfänden will? Fragt Tanja.
Müssen wir das jetzt besprechen?
Wir sollten den Verkauf organisieren. Sagt sie. Sonst erbst du gar nichts.
Der Papierstrohhalm hat sich im Glas aufgeweicht. Einzelne Stücke treiben träge zwischen den Minzblättern. Ich fühle mich dem Strohhalm verbunden. Bin breiig weich, zerfalle langsam. Möchte mich seinem Vorbild entsprechend auflösen und wegtreiben lassen.
Ich will nicht verkaufen. Sage ich.
Du musst. Tanjas Lippen bilden einen dünnen Strich.
Wo ist eigentlich Estelle? Frage ich.
Dem Viech geht’s bestens. Sagt Tanja forsch.
Giesst jemand die Pflanzen?
Bin ich etwa dein Dienstmädchen?
Du bist eine Dämonin, direkt aus der Hölle.
Sei nicht so dramatisch.
Die Pflanzen brauchen Wasser, um zu überleben. Sage ich. Wir können uns nicht alle von den Seelen toter Kinder ernähren.
Die Pflanzen sind dein kleinstes Problem. Sagt Tanja leise.
Da muss ich dir recht geben. Lache ich. Du bist das Grössere.
Tanja sieht mich an, als möchte sie zuschlagen.
Ich lasse morgen das Haus schätzen und stelle ein Angebot zusammen. Sagt sie. Hoffentlich bist du nächste Woche wieder bei Verstand.
Lieber ein Ende ↗
Autofiktionales Tagebuch, 2019
Textauszug Prolog «Vor Brasilien»
Montagabend. Ich winke den Teamkollegen, die noch mit vollen Biergläsern vor dem Restaurant stehen, zum Abschied. Zünde mir eine Zigarette an. Vinzent ist ein paar Schritte voraus, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen, das Gesicht im Kragen versteckt. Eine Schildkröte, die jeden Moment den Kopf einzieht. Aldabra-Riesenschildkröten haben eine biegsame Wirbelsäule und können den Kopf gerade in den Panzer einziehen. Tiere mit so einer Wirbelsäule werden auch Halsberger genannt.
Schneeflocken landen in meinen Haaren, knirschen verhalten unter meinen Schuhen. Ich hake mich bei Vinzent unter. Er sagt nichts und neben uns rauscht der Fluss, der heute wenig Wasser führt, dafür umso mehr Treibgut. Wind bringt die Baumkronen durcheinander und meine Gedanken. In zwei Tagen bin ich auf einem anderen Kontinent. Mit meinem anderen Freund. Drei Wochen Brasilien. Sommer, Sonne und der ganze Kram. Ich will nicht gehen, sage ich und ziehe Vinzent an mich.
Mitja bellt lange bevor ich den Schlüssel im Schloss drehe. Hat gehört, wie ich im Treppenhaus gestolpert bin und wie ich mich (laut fluchend) darüber aufgeregt habe. Mit wedelndem Schwanz läuft er auf mich zu, wirft sich auf meine Füsse. Wie er es immer tut. Ich setze mich auf den Boden oder lasse mich fallen und kraule ihm den Hals. Vinzent füllt den Wasserkocher, stellt zwei Tassen auf den Tresen. Das wird wieder mit Stephan und dir. Sagt er. Die Ferien werden das regeln und keine Sorge und überhaupt. Er grinst mich an, mit diesem breiten Grinsen, das die Lachfalten um seine Augen betont. Einen Moment lang vergesse ich, dass ich wütend bin. Das wünschst du dir. Sage ich dann und versuche den Hund anzuleinen, während er übermotiviert an mir hochspringt. Der Halsberger giesst Kamillentee auf und zieht den Kopf langsam zurück in seinen Panzer.
Lieber ein Ende ↗
Autofiktionales Tagebuch, 2019
Textauszug Kapitel 1 «Brasilien»
Freitagnacht. Stephan liegt auf dem Rücken und schnarcht. Beim Einatmen produziert seine verstopfte Nase dieses klassische Rattern, das an eine Motorsäge erinnert, beim Ausatmen ein Pfeiffen, ähnlich dem Geräusch, das Pfeiffhasen machen, wenn sie ihren Clan vor nahender Gefahr warnen. Durch das engmaschige Moskitonetz vor dem Fenster dringt nur wenig frische Luft – das Zimmer stinkt nach Schweiss und alkoholischen Ausdünstungen –, und kaum ein Lichtstrahl, so dass ich die Tür links von mir nur knapp ausmachen kann. Mein Urin riecht sauer, die Haare bestehen aus Zigaretten, der Mund ist Asche. Ich öffne das Fenster im Bad und blockiere die Tür zum Schlafzimmer mit einem Flipflop, zwecks Luftzirkulation.
Stephan ist noch immer ein Pfeiffhase, also drehe ich ihn, unter Aufwendung meiner ganzen Körperkraft, auf die von mir abgewandte Seite. Und er dreht sich direkt wieder um, zieht mich an sich. Seine Brusthaare kitzeln meinen nackten Rücken. Er atmet ruhig, pfeifft jetzt leiser und nur bei jedem dritten Atemzug. Und ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln, kleine Seen bilden, überlaufen. Spüre, wie das Kopfkissen, in seiner neuen Rolle als Schwamm aufgeht, sich vollsaugt mit der Flüssigkeit, die mein vom Alkohol ausgetrockneter Körper besser behalten würde.
Lieber ein Ende ↗
Autofiktionales Tagebuch, 2019
Textauszug Kapitel 1 «Brasilien»
Samstagnachmitag. Der Tisch ist klebrig, die Süsskartoffel-Pommes riechen nach altem Frittieröl. Ich picke wahllos zwei, drei aus dem Einwegteller, tunke sie in Ketchup, spüle mit Bier. Mir gegenüber tut Stephan das Gleiche. Ich würde gern mit ihm reden. Mit ihm Wörter austauschen, mit Wörtern das Loch stopfen, das sich (lange unbemerkt) zwischen uns aufgetan hat. Aber sowie ich den Mund öffne, fallen sämtliche Wörter stumm aus diesem heraus, liegen dann so am Boden neben dem Loch. Und meine Hand, im Versuch zu helfen, greift nach mehr Pommes.
Die Strandbar ist überdacht und laut. Kinder springen um klebrige Tische über klebrigen Boden, während die Eltern sich biertrinkend nicht unterhalten. Katanka: Esporte & Lounge steht in riesigen Buchstaben an der Wand – man könnte sonst vergessen, wo man sich befindet – und vermietet wird alles, was irgendwie mit Wasser zu tun hat.
Vor der Bar wartet ein Rasen, der früher mal grün war, Gabriela und Eustáquia sonnen sich auf Liegestühlen. Clara und Arthur ringen auf einem schwimmenden Steg im Wasser. Touristen pumpen ein Stand up Paddle auf. Der See ist blau. Sehr blau, gibt sein Bestes. Ob ich die Pommes noch esse. Fragt Manoel. Der jetzt neben mir steht. Er schwitzt in sein weisses T-Shirt. Ich greife nach meiner Canon (5D, Mark II) und überlasse ihm den Stuhl.
Menschen auf Stand Up Paddlen sind mir suspekt. Sie stehen so da, diese Menschen mit ihren Schwimmwesten und dem sich abzeichnenden Sonnenbrand, und heissen Mark oder Sara (ohne H). Unbeholfen auf einem aufblasbaren Stück Plastik, wedeln mit dem Paddle, bemüht ein Gleichgewicht herzustellen, das sie noch nie hatten. Arthur winkt vom Ende des Stegs und ich bewege mich vorsichtig über den nassen Untergrund – der sich willenlos mit den Wellen auf und ab bewegt –, mache dabei Fotos von Clara, die sichtlich gern für mich posiert. Sie und ihr Bruder sehen sich ähnlich. Gross gewachsen, sportlich. Die dunkelbraunen Haare zeigen helle Reflexe in der Sonne. Und beide bewegen sich so, wie es nur Menschen tun, die wissen, dass sie besser aussehen, als die meisten ihrer Artgenossen. Ähnlichkeit zum Vater sehe ich kaum, hat Manoel doch weder die gute Statur, noch die Haare. Clara dreht sich auf den Bauch, stützt den Kopf in die Hände, sieht aus wie das Cover eines Beauty-Magazins: 10 Tipps für kalorienarme Sommer-Snacks. Ich übergebe meine Süsskartoffel-Pommes dem Wasser.
Luna und die Leiche ↗
Krimi, 2013-2014
Textauszug Kapitel 1
Noah warf den Stock soweit er konnte, warf ihn und wartete darauf, dass Luna apportieren würde, aber sie tat es nicht. Sie hatte eine Fährte aufgenommen und verschwand ein ganzes Stück weiter vorne im Dickicht, das den Uferhang überwucherte. «Luna», rief er, «komm zurück! » Vom Ufer her hörte er ein Bellen, dann aufgeregtes Winseln. Noah begann zu laufen. «He », schrie ihm Laura hinterher, «he Noah, warte! » Luna konnte jetzt nicht mehr weit entfernt sein. Noah schlug sich links in die Büsche und machte ein paar vorsichtige Schritte hangabwärts. Die Uferböschung war steil und Vorwärtskommen schwieriger als erwartet. Noah schob mit den Händen Zweige zur Seite und zwängte sich zwischen dicht gewachsenen Büschen hindurch. Das Winseln kam näher und er sah durch die Blätter schon das braun glänzende Fell seines Labradors.
Die Hündin schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, als er hinter ihr ans Ufer trat, begutachtete stattdessen schwanzwedelnd den Fund, den sie soeben gemacht hatte. Noah begriff nicht sofort, was er sah. Er stand da, gelähmt, sein Gehirn eingefroren. Der Körper trieb im Wasser, die Beine waren an einem Ast hängen geblieben und das blonde Haar, bewegtesich leicht in der Strömung. Luna machte einen Schritt in den Fluss und leckte die Hand der toten Frau. Die Haut schimmerte weisslich, die Finger waren aufgedunsen. «Noah! », rief Laura, sie stand jetzt direkt hinter ihm, «Was macht ihr denn da? » Noah wollte antworten, wollte weglaufen, wollte den Blick von dem toten Körper abwenden, aber seine Lähmung hatte scheinbar auch seine Zunge eingefroren und die Augen, er sah nur noch die blonden Haare, die sich im Wasser träge hin und her bewegten.
Ein Tag im Leben von ↗
Textauszug Magazinartikel
«Young Swiss Mag», 2015
Evas Zähne explodierten, sie fielen ihr aus dem Mund, in winzig kleinen Stücken. Angewidert spuckte sie aus. Blut rann ihr übers Kinn, jemand lachte. Boris. Er stand einfach nur da und lachte. Kalter Schweiss stand ihr auf der Stirn, als sie sich im Bett aufsetzte. Mit den Fingern fuhr sie sich vorsichtig über die intakten Zahnreihen. Alles da. Kein Blut. Eva fröstelte, legte sich wieder hin. Neben ihr schnarchte Boris leise, er sah jünger aus im Schlaf. Sie drehte sich zur Seite, rückte ganz dicht zu ihm auf und legte sich seinen Arm auf den Bauch.
Simon und die Schildkröte
Kurzgeschichte, 2015
12:00 Uhr. «Wir haben auch Zwergkaninchen», sagte die Verkäuferin und machte mit der Hand eine vage Geste in den hinteren Teil des Geschäfts. Simon schüttelte den Kopf. «Oder wie wäre es mit einem Hamster?», fragte die Frau und lächelte hilflos. «Nein? Rennmäuse vielleicht?» Boris rieb sich die Augen. Er war seit über 24 Stunden wach, sehnte sich nach einem Bett und so viel Distanz wie die Verkäuferin zu ihm wahrte, roch er ziemlich sicher streng. Und Simon? Simon konnte sich einfach nicht entscheiden. «Wie wäre es mit einem Vogel? Einem Papagei?» Langsam schienen der Verkäuferin die Ideen auszugehen. «Fische sind wieder im Trend bei jungen Leuten, seit diesem Kinofilm vor ein paar Jahren.» Simon hörte die Verkäuferin offenbar nicht. Er sah sich im Laden um, als wäre er eben erst reingekommen, entdeckte ein Terrarium, das eine besonders grosse Schildkröte beherbergte und marschierte darauf zu. Simon beobachtete die Schildkröte, die in Zeitlupe an einem Salatblatt kaute. «Die will ich haben», sagte er dann. Boris war mittlerweile alles egal, er hätte Simon auch einen Braunbären gekauft. «Die scheiss Schildkröte willst du haben? Grossartig!» Sagt er und zur Verkäuferin: «Kann man die irgendwie einpacken?»
06:00 Uhr. Boris bemerkte das Verschwinden seines Bruders erst am Morgen. Simon hatte den ganzen Abend ruhig auf dem Sofa gesessen und von einer Sekunde auf die andere war er weg gewesen. Boris suchte das ganze Quartier nach seinem Bruder ab. Er lief durch alle Seitenstrassen, an den Reihenhäusern und Gartenzwergen vorbei, schlich durch Gärten und durchsuchte offenstehende Garagen. Nichts. Boris wurde nervös. Er lief planlos Richtung Bahnhof. Irgendwer hatte kleine, rote Fähnchen mit Schweizerkreuzen in die Hundehaufen am Wegrand gesteckt. Wer würde denn sowas machen? Boris verfluchte die Party und er verfluchte seine Freunde, die Simon mit der Bowle abgefüllt hatten. Wetten hatten sie abgeschlossen, darüber wieviel Simon trinken konnte, bis er a) auf den Teppich kotzen, oder b) singend ums Haus tanzen würde. Boris, der auch von der Bowle getrunken hatte und entsprechend die ganze Nacht über mit sich selbst beschäftigt gewesen war, hatte geglaubt, mit Simon sei alles in Ordnung. Simon war oft allein und selten gesprächig, da schien Boris völlig normal, dass er still und irgendwie verpeilt auf dem Sofa sass.
11:00 Uhr. Boris trat gegen den Zaun am Wegrand. Wenn er sich von den Eltern nur nicht hätte erweichen lassen. Wenn er Simon nur daheim gelassen hätte. Wenn. Boris' Magen meldete sich und verlangte nach Chips oder Salzstangen. Boris überlegte, in der Migros was einzukaufen, da entdeckte er endlich seinen Bruder. Simon stand an einem Fussgängerstreifen und hatte einen Hund an der Leine. Einen gottverdammten Hund. Wer die rechtmässige Besitzerin des Hundes war, musste Boris sich nicht lange fragen. Eine Frau lief laut fluchend auf Simon zu. «Gib mir meinen Hund zurück!» Rief die Frau. «Dein Hund. Mein Hund. Ein Hund», antwortete Simon. «Was soll der Scheiss?» Rief die Frau. «Wir können tauschen. Ich geb dir ein Fähnchen für den Hund.», sagte Simon und kramte ein paar kleine, rote Fähnchen mit Schweizerkreuzen aus seiner Hosentasche. Die Frau stand reglos da. Die Stirn in Falten gelegt und sah aus, als hätte ihr Hirn soeben einen Kurzschluss produziert. Auch Simon stand da, lächelte selig vor sich hin. «Simon, gib ihr den fucking Hund.» Sagte Boris. Simon reagierte nicht. In Gedanken sah Boris, wie sein Bruder auf die Strasse lief, anfing, Passanten zu umarmen, oder sich an Ort und Stelle nackt auszog. Jetzt hätte man eigentlich Wetten abschliessen müssen. «Simon», sagte Boris gequält, «was muss ich tun, damit du der Frau ihren Hund gibst?»
Melandra
Novelle, 2009
Textauszug Kapitel 1
Mary streckte langsam ihre Hand nach der Zypresse aus, die einsam mitten im Garten stand. Sie berührte die raue Baumrinde. Zeichnete mit dem Finger Kerben im Holz nach. Sie tat das eine ganze Weile. Ohne zu wissen, wieso dieser Baum sie so faszinierte. Plötzlich wurde Mary heiss und kalt. Ihr wurde schwindelig und übel, dass sie kotzen wollte. Marys Beine verwandelten sich in Pudding. Und dann war da nur noch schwarz. Mary sah eine junge Frau, sie kniete vor ein paar Gestalten in schwarzen Umhängen. Die Frau trug ihr krauses Haar offen. Der Wind wehte es ihr ins Gesicht. Auch sie war in einen schwarzen Umhang gehüllt. Ihre grünen Augen starrten ins Leere. Die Frau senkte den Blick, als ein Mann aus der Gruppe trat und seine Hand auf ihren Kopf legte. Er begann mit einem murmelnden Singsang, so leise, dass Mary kein Wort verstand. Die anderen fielen nach und nach mit ein. Mary wusste nicht wo sie war. Ob sie einen Körper besass. Und es kümmerte sie nicht. Der Mann sang weiter. Seine tiefe Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. Manchmal trug der Wind Wortfetzen mit sich, aber die einzelnen Bruchstücke des Liedes ergaben keinen Sinn. Allmählich wurde die Frau von einem gelben Lichtkegel umschlossen. Er schien von ihr selbst auszugehen. Das Licht wurde heller und bald so grell, dass Mary die Augen schmerzten. Mary wandte den Kopf ab. Von weit her rief jemand ihren Namen. Dann erschien das Gesicht ihrer Mutter über ihr.
Kim Corti
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